Das historisierende Subjekt in einer Geschichte ohne Ende – als Möglichkeit transdisziplinärer Geschichtsvermittlung
Nikolaus Reisinger
Historiker und Verkehrs- und Technikhistoriker;
Institut für Geschichte der Universität Graz,
Vize-Präsident von indexicals – Centrum für Philosophie, Wissenschaftstheorie und Philosophie der Kunst,
Graz, Österreich
Kurzfassung:
An die Geisteswissenschaften wird zunehmend die Forderung nach gesellschaftsrelevanter, problem- und zukunftsorientierter Forschung herangetragen. Bezogen auf die Geschichtswissenschaft verweisen Begriffe wie „gesellschaftsrelevant“, problem-“, „praxis-„ und „zukunftsorientiert“ implizit und unmittelbar auf den in der historischen Forschung ambivalent besetzten und ebenso kontrovers diskutierten Aspekt des „Lernens aus der Geschichte“.
Der Begriff „Wissenschaft“ verweist (in seiner etymologischen Grundbedeutung) auf den Sachverhalt, dass „Wissen“ „geschaffen“ werde. Für den universitären Bereich bedeutet dies etwa, auf aktuellen Forschungsergebnissen basierendes „Wissen“ zu „schaffen“ und dieses über die universitäre „Lehre“ und andere Vermittlungsebenen - gesellschaftsrelevant - zu kommunizieren. Verstehen wir darüber hinaus „Wissen“ etwa als „Handlungswissen“, das zu einem reflektierten Bestandteil unseres aktuellen Verhaltens- und Handlungsrepertoires werden soll - wie das beispielsweise in den Schullehr- und Studienplänen als Lehr- und Lernziel formuliert steht - so erweitert sich die Tragweite der Bedeutung von Lehre und Lernen ganz allgemein. Vorausgesetzt, diese beanspruchen für sich, das Initiieren von Lernprozessen, die auf die potentielle Möglichkeit abzielen, vorhandene „Wissens- bzw. Verhaltens-Dispositionen“ zu hinterfragen bzw. diesen alternatives „Handlungswissen“ gegenüberzustellen („Lernen aus der Geschichte“).
Dazu hat eine interdisziplinär ausgerichtete und eine in eine Vielzahl von Teildisziplinen und „Ansätzen“ breit gefächerte Geschichtswissenschaft mittlerweile eine tragfähige Basis geschaffen. In diesem Kontext besonders bedeutsam ist die „Erkenntnis“ eines historisierenden Subjekts und dessen Positionierung als „relativierendes Element“ im „historischen Prozess“: Dem historisierenden Subjekt, selbst Objekt historischer Analyse und Interpretation, ist es nicht möglich, in einer sich ständig durch ihn verändernden Welt, historische Prozesse so zu rationalisieren, um zukünftige Entwicklungen (der Geschichte) vorauszusagen. Historisches Wissen ist immer inter-subjektives, und damit auf Hypothesen beruhendes Wissen. Somit kann Geschichte per se keine Lehren erteilen; wir können lediglich versuchen, (unsere subjektiven) Lehren aus der Geschichte zu ziehen. Trotzdem ermöglicht eine permanente Selbst-Verortung seitens des historisierenden Subjekts (im Sinne kritischer Selbstreflexion), „historische Erfahrungen“ verantwortungsvoll zu (re-)konstruieren, zu deuten und so Richtlinien bzw. ein Paradigma für „selbst-bewusstes“, zukunftsorientiertes „historisches Handeln“ vorzuschlagen.
Vor dem Hintergrund der Diskussion, Erarbeitung und Umsetzung von Problemlösungsstrategien zu aktuell anstehenden gesellschaftlichen Problemfeldern stellt sich daher für die Einbringung „historischer Erfahrungen“ in die Praxis die Frage nach Vermittlungsstrategien, die auf eine weitgehende Erreichbarkeit individueller als auch kollektiver Befindlichkeiten und Bedürfnisse abzielen. Im Sinne eines historischen „Lernanspruches“ müssen Erfahrungs- oder Wissenstransfer daher zwangsläufig auch didaktische Überlegungen inkludieren, deren Wirkungsfeld eine möglichst breite - in letzter Konsequenz sogar „globalisierte“ - Öffentlichkeit umfassen sollte.
Dementsprechend könnte ein transdisziplinärer Prozess (als Synthese disziplinärer Theorien und Methoden etwa der Geschichtswissenschaft, Bewusstseinstheorie, Lernpsychologie sowie Lernpädagogik) die Integration lerntheoretischer Ansätze in die historische Theorie/Methode(?) anregen. Bindeglied und gleichzeitig Ansatzpunkt wäre dabei jenes auf dem historisierenden Subjekt basierende offene Geschichtsmodell, dessen Gesellschaftsrelevanz sich in einem lernerInnen-zentrierten Lehr- und Lernmodell der Geschichte widerspiegeln könnte.
Somit bietet der von den Geisteswissenschaften allgemein geforderte Nachweis gesellschaftsrelevanter Forschung die Möglichkeit, das traditionell-institutionalisierte Verhältnis von Wissenschaft, Forschung, Lehre und Lernanspruch bezogen auf gesellschaftliche Bedürfnisse zu modifizieren, und damit neue, auf unmittelbare problem- und zukunftsorientierte Wirkungsfelder gerichtete Forschungs- und Umsetzungsfelder der Geschichtswissenschaft zu erschließen.
|